Literarischer Kümmerer: US-Autor Tom Drury im Porträt - WELT (2024)

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Mit diesem Mittag ist metaphysisch nichts anzufangen. Und mit dieser Gegend auch nicht. Die Villen liegen schlafend am Rand des Wannsees und warten auf Schnee. Es ist grau, es ist kalt. Eine Motorsäge jault. Wenn wenigstens ein Fuchs auftauchen würde, dem man ein bisschen symbolische Bedeutung aufhalsen könnte. Nichts da.

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Tom Drury kommt aus der American Academy. Er sieht zerbrechlich aus, aber das liegt vielleicht an diesem brüchigen Tag. Aus Iowa ist er nach Berlin gekommen für gut ein halbes Jahr.

In Iowa lebt er jetzt wieder. Nach Jahrzehnten in Los Angeles, New York und Providence ist er zurückgekehrt in die Heimat, die er in Kurzgeschichten und mittlerweile fünf Romanen beschrieben hat: die Dörfer seiner Kindheit, ihre Kultur, ihre Leute, ihre Gespräche. Gewissermaßen als globale Dörfer hat Drury sie in die Weltliteratur eingeschrieben, als vom gesellschaftlichen Wandel angegriffene, von der Krise angekränkelte Vorposten einer agrarischen Welt, die sich gegen die anrückende Welle der industriellen Moderne stemmt.

Tom Drury könnte wie eine Monstranz vor sich hertragen, dass er ein Großschriftsteller ist. Tut er aber nicht: Tom Drury ist ein leiser Mensch.

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Mit diesen aus der Mitte des Nirgendwo gewonnenen, universal gültigen Geschichten hat er sich in die Liste der goldenen (inzwischen mittleren) Generation amerikanischer Großerzähler geschrieben. Das könnte er jetzt wie eine Monstranz vor sich hertragen. Das tut er aber nicht: Tom Drury ist ein leiser Mensch.

Er geht schon vorsichtig. Beim Reden dreht und wendet er Sätze und Gedanken. Und er hat etwas an sich, das Großschriftstellern eher selten eigen ist: Er hat die Gabe, selbst nasskalte Januarspaziergänge angenehm zu temperieren. Tom Drury ist ein feiner Kerl.

Darauf hätte man nach fortgesetzter Drury-Lektüre kommen können. Tom Drury ist nämlich der fürsorglichste Erzähler, den man sich als literarische Figur wünschen kann. Er ist ein literarischer Kümmerer. Das schärfste Schwert, das er – obwohl es durchaus schon unlustiger, kühler geworden ist in seinen Romanen – über seinen Helden schwingt, ist sanfte Ironie.

Sterben müssen die Bösen, und sie wachen auch nie wieder auf. Manchmal sterben zwar auch die Guten, wie im neuen Roman „Das stille Land“. Aber das bleibt nicht das letzte Wort. Drury wird dafür sorgen.

Wir staksen irgendwo hin. Er kennt sich noch nicht aus, ich mich noch immer nicht. Am S-Bahnhof gibt’s ein Hotel, sagt er. Da kann man Kaffee trinken. Wir treiben da hin. Es ist leer. Die Australian Open werden auf dem Flachbildschirm übertragen. Dazu singt Helene Fischer. Wir rühren in unseren Tassen.

Literarischer Kümmerer: US-Autor Tom Drury im Porträt - WELT (1)

So viel Ablenkung gibt es in Drurys Romanen nie, bestimmt nicht in den Dörfern von Grouse County, das er zusammengesetzt hat aus dem Land seiner Kindheit. Das sei seine Bühne, sagt er, der Weg zum Erzählen sei dort kurz. Die Höhepunkte des Jahres in Grouse County oder in der Driftless Area am Mississippi, wo „Das stille Land“ spielt, sind die alljährliche Aufführung eines Dramas über einen Bankraub und die Kette dramatischer Ereignisse, die er vor beinahe 100 Jahren ausgelöst hat.

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Oder ein Tanzabend in der Turnhalle, bei dem Brian Davis und der Schlackehaufen Musik machen, „Das Ende des Vandalismus“ heißt der Abend. Er endet natürlich im Vandalismus, in einer wüsten Schlägerei. Trotzdem haben sich alle danach wieder lieb. Grouse County lebt vom sozialen Netzwerken. Von der Warmherzigkeit.

Drurys erster Roman, der von diesem Tanzabend und von den Schrullen, den Geschichten von insgesamt 68 Figuren handelt, trug diesen Titel: „Das Ende des Vandalismus“. Das Buch wurde, kurz nachdem es 1994 erschien, unter die besten 50 amerikanischen Romane gezählt. Drury war damals immerhin auch schon 38 Jahre alt.

„Es war einfach zu ruhig da, wo ich aufgewachsen bin“, sagt Drury achselzuckend, spricht man ihn darauf an, dass seinem gut 400-seitigen Roman eine Personalliste angehängt ist, die den Vergleich mit Tolstoi nicht zu scheuen braucht. „In dem Buch hab ich alle dazu gebracht, rauszukommen und anzufangen zu erzählen.“

Seitdem plappern die Leute von damals, die bei Drury immer auch die Leute von heute sind. Sie reiben sich an der Gegenwart, mit dem Kopf und dem Herzen noch tief in ihrer Vergangenheit. Sie reden, wie es Drury in Erinnerung hat, sie halten an ihren Traditionen fest.

Die Krise kommt über Tom Drurys Welt. Das agrarische Zeitalter ist zu Ende. Die Menschen verwandeln sich bei lebendigem Leib in Gespenster.

Man erschrickt fast, wenn ein technisches Referenzobjekt der Gegenwart auftaucht. Ein Handy zum Beispiel. Doch die Welt verändert sich schleichend. Die Krise kommt. Das agrarische Zeitalter ist zu Ende. Die Menschen verwandeln sich bei lebendigem Leib in Gespenster.

„Armageddon“ steht auf dem Wasserspeicher. Das haben die Kinder da hingepinselt, aber die wissen in Drurys Romanen immer mehr als die Erwachsenen. Kinder und Tiere sind hier die Boten von etwas ganz anderem. Metaphysik halt. Nicht nur die Zeiten reiben sich. Auch die Wirklichkeiten.

Er hatte, sagt Drury, gar nicht vor, einen Nachruf auf eine Lebensweise zu schreiben. Es hat sich so ergeben. Strategien mag er nicht. Er setzt Figuren in seinem Theater in Bewegung und schaut, träumt ihnen hinterher.

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Dass die Menschen, die Träume aus seiner Kindheit kommen, hat etwas mit Wissenwollen, mit Herkunftserforschung zu tun. Es gibt aber kein Trauma, das Drury auserzählen müsste, um sich von ihm zu befreien. Er muss sich nicht abarbeiten.

Er mag die Leute, er mag die Art, wie sie leben, wie sie miteinander umgehen. Drurys Romane erzählen auch davon, wie wir leben sollen; sie erzählen von Menschen, unter denen Drury gerne leben möchte. Weil er aber (wie sie) ahnt, dass kältere Tage kommen, weht da über allem immer ein Hauch Melancholie.

Literarischer Kümmerer: US-Autor Tom Drury im Porträt - WELT (2)

Unter vielen Büchern sei er aufgewachsen, sagt Drury. Das Heiligtum seiner Mutter hatte 22 Bände und versammelte das greifbare Wissen der Prä-Google-Ära. In der „World Book Encyclopedia“ fand sich alles. Selbst die Driftless Area, die seinem jüngsten Roman den Titel gab, der jetzt auf Deutsch unter der ein wenig merkwürdigen Überschrift „Das stille Land“ erschienen ist (mit zehn Jahren Verspätung, wie alle Romane Drurys im Deutschen).

Drurys Vater las Zane-Grey-Western und Perry Mason. Ein paar Buchclub-Ausgaben gab’s noch im Regal. Ansonsten kletterte Tom regelmäßig in den Bücherbus, der für das 22-Seelen-Kaff seiner Kindheit in Iowa eher ein Van war. Las mit 13 Jahren „Best American Short Stories“, las Carver und Salinger. Las Charles Portis’ „True Grit“.

Wollte schreiben. Schrieb aber erst einmal für Zeitungen, studierte Journalismus. Lesen musste hintanstehen. Einen Lektüreplan, einen Kanon gab’s nicht. Er las, was ihm in die Hände fiel, was man ihm empfohlen hatte. „Hemingway, hm, einen Versuch ist’s wert.“

Journalismus wurde sein Brotberuf, er war Reporter, er war Redakteur, in Los Angeles war er für die Website des County Museum of Art zuständig, was ihm, sagt er, ziemlich viel Spaß gemacht hat. Und zum Journalismus konnte er, musste er immer wieder zurückkehren. Fünf Romane in 31 Jahren sind nicht eben viel. Mehr war halt nicht drin.

Auf den letzten Drücker, in seinen späten Zwanzigern, hatte er bei Robert Coover an der Brown University von Providence, Rhode Island, kreatives Schreiben zu lernen begonnen. Coover, einer der bedeutendsten postmodernen amerikanischen Erzähler, sei lustig gewesen, sagt Drury, und großherzig. Kein Diktator, ein Wegweiser. Er hat Drury zu einem Realisten werden lassen.

„Das stille Land“ ist Pulp und Western und Thriller und Gesellschaftsporträt und Liebesgeschichte und Gespensterlegende. Die gewissermaßen unendliche Geschichte von Stella Rosmarin und Pierre Hunter.

Doch Drury ist keiner geblieben. Gespenstern glichen seine Figuren immer schon ein bisschen. Sie träumten viel, schlafwandelten manchmal. Es ging etwas um in den Dörfern von Iowa. Der Himmel war voller Sterne.

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In der Driftless Area, einer harschen Gegend, die von den Gletschern im Mittleren Westen beim Abschmelzen vergessen wurde und jetzt als Schlackehaufen in sanftem Farmland herumsteht, geht Drury nun einen beherzten Schritt weiter in die Unheimlichkeit, nimmt, was ihn an Genres begleitet hat, und wirft es in einen Literaturmixer.

„Das stille Land“ ist Pulp und Western und Thriller und Gesellschaftsporträt und Liebesgeschichte und Gespensterlegende. Und die gewissermaßen unendliche Geschichte von Stella Rosmarin und Pierre Hunter.

Er habe einmal, so erzählt Drury, eine Frau getroffen, die überzeugt davon war, wiedergeboren worden zu sein. Sie konnte sogar Geschichten aus ihrem früheren Leben erzählen.

Und weil Drury viel Pusong Ling gelesen hatte, einen chinesischen Sammler und Erfinder von Gespenster- und Liebesgeschichten aus dem 17. Jahrhundert, weil er, ohne sonderlich religiös zu sein, ein Ohr für das Spirituelle, für die menschliche Sehnsucht nach den Dingen hinter den Dingen hat, stellte er Pierre Hunter, einen jungen Drifter, in die Driftless Area (Drury kennt sie, wie gesagt, aus dem „D“-Band der World-Book-Enzyklopädie und fand die Reibung zwischen dem poetischen Wort „Driftless“ und dem bürokratischen Wort „Area“ seitdem reizvoll). Und in die Handeiner unheimlichen Frau.

Literarischer Kümmerer: US-Autor Tom Drury im Porträt - WELT (3)

Wenn man sich keinen Plan macht vor dem Schreiben und keine Strategien mag, dann kann einem plötzlich der erste große postagrarische Roman unterlaufen – das war „Traumjäger“, mit dem Drury 2008 in Deutschland bekannt wurde. „Das stille Land“ nun liest sich wie der Roman eines ins geschichtenvolle und warmherzige Niemandsland von Iowa verschickten Zwillings von David Lynch. Ein ganz merkwürdiges Ding. Ein liebevoller Gruselschocker (Zachary Slusser hat ihn verfilmt, er kommt im Spätsommer in die Kinos).

Der Kaffee ist getrunken. Wir könnten noch weiter über Autos reden (über Pierres beneidenswerten weißen MGA zum Beispiel, den ihm Drury gegönnt hat, weil er selbst ihn gerade nicht gekauft hat, als er in seinen Zwanzigern war und die Chance dazu hatte). Helene Fischer singt nicht mehr. Und Roger Federer, der Zauberer, ist in Melbourne ausgeschieden.

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Drury erklärt noch, warum er so fürsorglich umgeht mit seinen Menschen: Er mag sie nicht kaputtmachen, „ich hab die doch geschaffen“. Man hat ja eine Verantwortung als Erzähler.

Es ist kein Hass in diesem Mann. Alle seien immer so nett zu ihm und hilfsbereit, sagt er auf dem Weg in die Unbehaustheit des Bahnhofsvorplatzes. Man wird ganz milde an diesem kalten Tag. Dem Wannsee gegenüber und, überhaupt, der Welt.

Literarischer Kümmerer: US-Autor Tom Drury im Porträt - WELT (2024)

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Author: Annamae Dooley

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Name: Annamae Dooley

Birthday: 2001-07-26

Address: 9687 Tambra Meadow, Bradleyhaven, TN 53219

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Job: Future Coordinator

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